Eisflüstern : Roman

Balàka, Bettina, 2006
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Medienart Buch
ISBN 978-3-85420-710-8
Verfasser Balàka, Bettina Wikipedia
Systematik DR - Romane, Erzählungen, Novellen
Verlag Literaturverl. Droschl
Ort Graz
Jahr 2006
Umfang 387 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Bettina Balàka
Annotation Lose treibende Weltstücke Zwischen den Kriegen: Balàkas Roman "Eisflüstern" Da sitzen sie also im Central, schlürfen ihre Melange, ordern Sandwiches und Dobostorte und tun so, als wäre nichts geschehen. Balthasar Beck drückt sich die Nase am Fenster des Kaffeehauses platt und kann es nicht fassen: Man schreibt den September 1922, er ist eben erst aus Krieg und Gefangenschaft nach Wien zurückgekehrt. Und nun das: Das Café Central, voller denn je, daneben der neu eröffnete Herrenhof, und überall Menschen, an denen der Krieg fast spurlos vorbeigegangen zu sein scheint, während er selbst vor den Türen steht und sich nicht traut, in sein früheres Leben zurückzukehren. "Eisflüstern", so der Titel des neuen Romans von Bettina Balàka, ist die Geschichte einer Orientierungslosigkeit, eines Verstummens und einer stillen Revolte. Sie führt zurück ins Wien der Zwischenkriegsjahre und damit in eine Gesellschaft ohne innere Heimat. Mit dem Untergang des k.u.k. Reiches ist auch das eigene Selbstverständnis verschwunden, mit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs der Glaube an Humanität und Menschenwürde. Umso hektischer, aber auch vergeblicher die Versuche, an das Lebensgefühl anzuknüpfen, das einen vor 1914 getragen hat. Dobostorte und Melange, Oper und Heuriger, alles wie immer, aber alles auch ganz anders. Balàka zeichnet eine Epoche des Übergangs und versucht sich dabei an einem Kolossalgemälde. Das muss man sich trauen. Umso größer das Staunen, wie selbstverständlich sie es schafft, Geschichte plastisch werden zu lassen und die Erfahrungen eines Menschen einzufangen, den der Krieg aus der Bahn geworfen hat. Balthasar Beck ist Kriminalbeamter, als man ihn 1914 einzieht. Schon ein Jahr später gerät er in Gefangenschaft und wird in ein sibirisches Lager überstellt. Er überlebt Schikanen und Fronarbeit, kämpft auf der Seite der Roten Armee gegen die Weißgardisten und findet erst 1922 zurück nach Wien. Tagelang streunt er durch die Stadt. Er hat keine Eile, zu Frau und Kind nach Hause zu kommen und schiebt die Begegnung immer wieder auf. Wer weiß, ob ihn daheim nicht ein neuer Mann und die längst erkaltete Liebe von Marianne erwarten? Für seine Tochter Aimée ist er ein Fremder, und überhaupt: Hat er mit dieser Welt von gestern noch etwas zu schaffen? Es dauert drei Wochen, ehe er an Mariannes Türe klopft. Sie nimmt ihn wieder auf, das wohl. Doch sie spürt, wie kalt es in ihm ist, sibirisch kalt. "Wenn Beck bei minus 45 Grad ausatmete, entstand vor seinem Mund eine Wolke aus weißen Kristallen, mit einem eigenartigen, knisternden Geräusch. Eisflüstern wurde das genannt." Dieses "Eisflüstern" ist nicht nur Titel des Romans, sondern gibt auch dessen Stimmung vor: Der Roman ist die Geschichte einer inneren Vereisung. Ohne sie wäre Beck in Sibirien zusammengebrochen, sie hat ihn vor dem Verrücktwerden gerettet. Doch nun, zurück in Wien, wird er die Kälte nicht mehr los. "Er wusste, dass die Welt in Stücke zerfallen war, dass an der Peripherie der lose treibenden Weltstücke sich Wahnsinn und Eis und erschossene Kinder drängten, dann in den inneren Schichten das Gleiche, immer weiter, nur ganz in der Mitte gab es winzigkleine Stücke von Erinnerung oder Wünschen." Auch die erzählerische Form von Balàkas Buch spiegelt die zerborstene Welt. Das einstmals sinnstiftende große Gefüge ist zerbrochen, der Roman zerfällt in 35 Splitter, jeder von ihnen mit einem lakonischen Titel versehen: eine Serie von Fragmenten, die immer wieder zusammenkommen und auseinanderdriften. Eine gelungene Form für ein Buch über desperate Zeiten. Beck sucht in sein einstiges Leben zurückzufinden. Er wird bei seinem früheren Chef vorstellig. Ob man ihn noch brauchen könne? Eine Probezeit wird ihm zugestanden, gerade jetzt scheint man einen wie ihn vielleicht doch wieder zu benötigen: Eine Serie mysteriöser Morde lässt die Polizei im Regen stehen. Die Toten, allesamt Kriegsheimkehrer, sind auf grausamste Weise gequält und umgebracht worden. Vielleicht kann Beck da was finden? Ihm zur Seite stellt man den Kollegen Ritschl, der sich alsbald als strammer Nationaler entpuppt und seinerseits Beck zu observieren sucht. Könnte doch sein, dass Beck mit dem oder den Mördern unter einer Decke steckt, mutmaßt er. Und überhaupt: Ob der sich nicht schäme für seine Frau, immerhin sei Marianne Jüdin und Aimée ein Judenbankert. Wo's doch jetzt hoch an der Zeit sei, aktiv zu werden: "Alles Jüdische, dem Goldenen Kalb des Zynismus Geopferte muss ausgeschwitzt werden. Das Jüdische ist die Skepsis, das Deutsche die Begeisterung! Die Herzen müssen vom reinen Leben durchsäftet werden, nicht die Gehirne vom Intellektuellendreck verödet." Vieles gehört aus-, anderes nur angesprochen. Bettina Balàka findet die Balance, sie hört die Töne hinter den Parolen, ortet die Verwirrung und Unsicherheit der Menschen in jenen Jahren, da ihnen der feste Boden unter den Füßen entzogen ist. Gerade auch dieser Beck taumelt durch den Alltag. Der Glaube an die Tröstungen von Ideologie oder Religion ist ihm längst abhanden gekommen, das Glück im stillen Winkel entpuppt sich als faules Versprechen. Mit seiner Frau will sich die frühere Innigkeit nur langsam wieder einstellen. Während seiner Abwesenheit hat Marianne an Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit gewonnen. Hinter diese Errungenschaften will sie nicht mehr zurück, die Verbindung mit Beck braucht ein neues Fundament. Doch das ist schwer zu bauen in einer Situation, da Misstrauen beider Gefühle lähmt. Was soll und kann Beck Marianne von seinem Leben in Russland erzählen, wie weit kann er gehen - und wieviel davon möchte sie überhaupt wissen? Nun, da ihn Friede umgibt, überfallen Beck die Erinnerungen gemeiner denn je. Alles scheint wieder da: die Kälte in den Baracken des Lagers, der Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn, die Angst vor Typhus und Fieber, der Hunger. Diebstahl, Betrug und Verrat gehören zum Alltag, Beck stumpft ab. Da ist noch Valentina, bei der er am Baikalsee untergeschlüpft war. Ein Taschentuch hat sie ihm mitgegeben auf dem Weg nach Hause, ihre kyrillischen Initialen hat sie ungelenk in eine der Ecken gestickt. Das alles könnte zum Rührstück werden. Bettina Balàka bleibt vorsichtig und zurückhaltend. Dort, wo ihr Erfahrung und Detailkenntnisse fehlen, schweigt sie. Andernorts hat sie genau recherchiert, so dass ihr Roman erstaunlich sinnlich und vital wirkt. Allein der Kriminalfall, der Sibirien und Wien ein weiteres Mal aneinanderkettet, gerät in seiner Drastik zum Holzschnitt. Es scheint fast, als hätte die Autorin ihrem eigentlichen Stoff, der Heimkehrergeschichte, nicht ganz getraut. Und so schiebt sie ihm die Kriminalhandlung unter. Der Fall ist spannend, auch das Finale mit seiner Wendung ins Unerwartete. Aber manchmal kommen sich die beiden Geschichten dann eben doch in die Quere. Sie haben nicht die gleiche Tonart und Lautstärke. Doch die leichte Störung hält nicht nachhaltig an. "Die Erinnerungen konnten einen krank machen, die Angst vor dem Kommenden auch; man hatte keine Gegenwart." Bettina Balàka erkundet das Niemandsland. Man bleibt ihr gebannt auf den Fersen. *Literatur und Kritik* Susanne Schaber

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